Drohende Mangellage: wenig Einfluss auf das geschehen in diesem Winter

Könnte ein kalter, trockener Winter erneut zu einer drohenden Mangellage führen? Welche Lehren lassen sich aus den vergangenen Monaten der Unsicherheit ziehen? Und wie werden die nächsten Winter aussehen? Eine Bestandsaufnahme mit Jacques Mauron, Generaldirektor von Groupe E.

Jacques Mauron, Generaldirekto

Die Schweiz ist eines der reichsten Länder der Welt, und dennoch befinden wir uns in einer sehr angespannten Situation in Sachen Energie. Wie konnte es dazu kommen?

Jacques Mauron: Unser Land, so reich es auch sein mag, bezieht über 70 Prozent seines Energiebedarfs aus dem Ausland. Das ist gewaltig! Eine derartige Abhängigkeit birgt Risiken, und das erleben wir gerade. Wir haben nur sehr wenig Einfluss darauf, was in unseren Nachbarländern geschieht. Ich denke dabei an den Konflikt zwischen Russland und der Ukraine, der unsere Gasversorgung gefährdet, und die geringe Kapazität französischer Kernkraftwerke, die den Export von Strom in die Schweiz nicht zulässt.

«Wir müssen unsere Reserven bestmöglich schonen, um den Winter ohne grössere Schwierigkeiten zu überstehen.»

Droht uns in diesem Winter eine Mangellage mit Einschränkungen, Kontingentierungen oder gar Abschaltungen?

Es besteht Grund zur Hoffnung: Unsere Stauseen sind gut gefüllt, die Gasreserven konnten im Ausland gesichert werden, und der Bundesrat hat viele Massnahmen beschlossen, wie eine Wasserkraftreserve und den Bau eines Wärmekraftwerks im Aargau. Ein kalter, trockener Winter oder eine Störung in einem der Kernkraftwerke unseres Landes könnte die Situation jedoch erschweren.

Haben die vom Bundesrat verordneten Sparmassnahmen Wirkung gezeigt?

Selbstverständlich, sie lässt sich jedoch nur sehr schwer quantifizieren. Jede Kilowattstunde eingesparter Strom und jeder Kubikmeter eingespartes Gas zählen. Wir müssen unsere Reserven bestmöglich schonen, um den Winter ohne grössere Schwierigkeiten zu überstehen.

Und wie sieht es mit den kommenden Wintern aus?

Wir befinden uns in diesem Jahr in einer schwierigen konjunkturellen Lage, bedingt durch das Zusammentreffen schwieriger Umstände im Ausland. Die Gasversorgung könnte im Winter 2023/2024 äusserst kompliziert werden. Wir bezahlen jetzt für unsere zu starke Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen. Diese Situation ist für unsere Versorgungssicherheit und den umweltbewussten Energieverbrauch nicht länger haltbar.

Bis Ende des Jahrzehnts und bis zur Abschaltung von Beznau, einem der ältesten noch betriebenen Kernkraftwerke weltweit, werden die drohenden Mangellagen jedoch zu strukturellen Risiken, wenn wir nicht schnell handeln. Die Schweiz produziert im Winter nicht genug Strom, zudem haben wir seit 40 Jahren keine grossen Kraftwerke mehr errichtet.

Was müssen wir tun?

Wir müssen jetzt handeln, an verschiedenen Fronten: Zunächst müssen wir die Energieeffizienz unserer Gebäude und unserer Industrien verbessern, also weniger und klüger konsumieren. Zudem müssen wir unsere Produktionsmittel weiterentwickeln und selbstverständlich auf erneuerbare Energien setzen. Gas- und Ölkraftwerke dürfen nicht die Norm sein, wenngleich sie derzeit wieder im Gespräch sind, um einen eventuellen Mangel im Winter auszugleichen. Das darf jedoch nicht auf Kosten des Klimas geschehen.

Die Herausforderungen scheinen gigantisch, zumal Strom in den kommenden Jahren eine immer grössere Rolle spielen wird! Werden wir sie meistern?

Die Herausforderung ist riesig, das stimmt. Heute verbrauchen wir in der Schweiz rund 60 TWh. Das entspricht in etwa unserer Produktion im Jahresdurchschnitt. Mit dem Ausbau der Elektromobilität und der Wärmepumpen wird unser Strombedarf bis 2050 auf schätzungsweise 84 TWh steigen. Das ist eine grosse Herausforderung, zumal unsere Kernkraftwerke nach und nach abgeschaltet werden. Bis 2050 müssen wir also zusätzliche 50 TWh Strom erzeugen.

Und wie werden wir bis 2050 diese 50 TWh erzeugen?

Die Photovoltaik ist die Energiequelle mit dem grössten Potenzial. Sie allein könnte zwei Drittel der Lücke schliessen, vor allem im Sommer. Zudem müssen wir, insbesondere im Winter, wenn der Verbrauch am höchsten ist, vor allem auf Windkraft, aber auch auf Wasserkraft setzen. In den Schubladen ruhen verschiedene Projekte; es ist jetzt an der Zeit, diese umzusetzen.

Wir müssen das Tempo beschleunigen: Spezialistinnen und Spezialisten ausbilden, Finanzierungsmodelle entwickeln, administrative Verfahren verkürzen … Wir tun dies für uns selbst, aber vor allem für kommende Generationen. Wie schon unsere Vorgänger, die visionären Geist bewiesen und im vergangenen Jahrhundert die grossen Wasserkraftwerke errichteten.

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